Gastarbeiter:innen Heft 2023

Jeder Mensch hat eine individuelle Lebensgeschichte. Jeder Mensch blickt auf die Welt vom eigenen Standpunkt heraus. So bilden sich unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungen. Hierbei gibt es keine Wertung darüber, welche Position richtig oder falsch ist. Jedoch steht es in der Verantwortung der Gesellschaft, möglichst viele Perspektiven einzuholen und sich zu vergegenwärtigen, dass auf der Welt auch andere Menschen leben, die ebenfalls Rechte haben. Denn kein Mensch ist dem anderen gegenüber Unter- oder Überlegen. Daher heißt es auch im Artikel 1 des Grundgesetzes ohne jegliche Ausnahmen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

Die Rechte und Werte der Menschen wurden schon immer in der Vergangenheit und werden leider auch in der Gegenwart missachtet. Menschen wurden versklavt, sie wurden als Objekte betrachtet und ihnen wurden ihre Rechte abgesprochen.
Auch Gastarbeiter:innen wurden oftmals als Menschen der niederen Klasse und sogar als „nur Arbeitskräfte“ angesehen, die nur für eine bestimmte Zeit nach Deutschland kommen und zum Aufbauen helfen sollten.

Auch wenn die Gastarbeiter:innen in den 60er Jahren groß begrüßt worden sind und die Mehrheitsgesellschaft froh über die helfenden Hände war, nahm die Freude für die ansässig werdenden Gastarbeiter:innen mit der Zeit ab. Während die Verträge mancher Arbeitskräfte nicht mehr verlängert wurden, erschwerte sich auf der anderen Seite beispielsweise die Wohnungssuche für viele Gastarbeiter:innen, die weiterhin in Deutschland geblieben sind.

Die Situation verschärfte sich besonders in den 80er Jahren mit der Ölpreiskrise, der vor der Tür stand und viele Menschen ihre Arbeitsplätze dadurch verloren. So fingen auch allmählich rassistische Stimmen an, laut zu werden, die die Meinung vertraten, dass die Gastarbeiter:innen in ihre Heimatländer zurückkehren sollen, sodass diese Arbeitsplätze frei stehen können. Die Anfeindungen lösten bei jedem Menschen Unterschiedliches aus. Im Jahre 1982 trieben sie die 26-jährige Semra Ertan sogar so weit, dass sie sich in der Öffentlichkeit verbrannte.

Der deutsche Schriftsteller Max Frisch stellte bereits 1965 mit seiner Aussage „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ fest, dass die Gastarbeiter:innen ebenfalls Menschen mit Bedürfnissen und Gefühlen sind, wie alle anderen auch. Dadurch weitete er nicht nur den Blick auf die Gastarbeiter:innen, sondern appellierte indirekt auch für Empathie und für einen sensiblen Umgang miteinander.

Sich in einem Land wohl zu fühlen, hat viel mit gegenseitigem Vertrauen, Achtung, Wertschätzung und Respekt zu tun. Jede Gesellschaft birgt Menschen mit guten und bösen Absichten in sich. Wichtig ist dabei auch in prekären Situationen den Mut zu haben, sich für andere einzusetzen. Denn auf eigene Rechte zu beharren und diese einzufordern, mag leicht sein. Die Rechte des Anderen jedoch vor Augen zu halten und bei Bedarf Zivilcourage zu zeigen, macht den starken Charakter aus und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Die Geschichte der Gastarbeiter:innen ist Teil der deutschen Geschichte. Daher gehören auch Menschen mit internationaler Biographie zu Deutschland. Somit sehen wir unsere Verantwortung als Dialogverein auch darin, Brücken zwischen Menschen zu bauen und für eine friedvolle Gesellschaft zu sorgen, die vor allem durch gegenseitigen Respekt und Wertschätzung funktionieren kann.

Die deutsche Gesellschaft wird von Jahr zu Jahr diverser und die Vielfalt in der Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht eine Bereicherung. Jedoch ist die Theorie leichter, als es die Praxis beweist. Damit die Diversität als Bereicherung angesehen werden kann, braucht es vor allem Begegnungsorte, in denen sich die Menschen kennenlernen, ins Gespräch kommen und sich auf Augenhöhe begegnen.

Daher ist die Begegnung für eine harmonie- und friedvolle Gesellschaft enorm wichtig. Denn sobald der Mensch sich nur in seiner „alt bekannten“ Nische bewegt, wird er „den Fremden“ immer nur als „fremd“ wahrnehmen.

Damit jedoch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt hergestellt werden kann, müssen die Vorurteile beseitigt werden. Um diese abzubauen, sollte primär die Bereitschaft zur Empathie gegeben sein und dazu benötigt der Mensch einen Einblick in das Leben der Anderen.

Genau diese Möglichkeit haben wir mit unserem Projekt „Gastarbeiter:innen“ versucht zu ermöglichen. Auch wenn es die „Gastarbeiter:innen“ so nicht mehr gibt, sind deren Kinder und Enkelkinder immer noch Teil dieser Gesellschaft.

Die Nachfolgegeneration der Gastarbeiter:innen hat z. T. noch mit unterschiedlichen Problemen zu ringen. Dabei sind u.a. Probleme wie Identitätsbildung, Anerkennung, Sprachbildung und Zugehörigkeit zu erwähnen.

Der Frage „Woher kommst du eigentlich her?“, sind fast alle Migrant:innenkinder bereits begegnet, obwohl viele von ihnen in Deutschland geboren worden sind. Auch wenn diese Frage zunächst harmlos erscheint, vermittelt diese Frage der jeweiligen Person die Nachricht „du bist nicht von hier bzw. einer von uns“. Damit auch gewisse Sensibilitäten in dieser Hinsicht entstehen können, ist es uns wichtig, dass Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und versuchen, ihr Gegenüber zu verstehen und einsehen, dass genug Platz für uns alle hier ist.

Wir leben in einer Welt, in der Menschen leider sehr schnell aufgrund von gegebenen Differenzen diskriminiert und ausgeschlossen werden. Damit eine friedvolle Gesellschaft aufgebaut werden kann, müssen die unsichtbaren Grenzen und Mauern zwischen Menschen aufgelöst werden.

In der Geschichte der Gastarbeiter:innen sind sowohl Hoffnungen als auch Herausforderungen, in ein unbekanntes Land gekommen zu sein, zu sehen. Damit die unausgesprochenen Hürden im Leben der Gastarbeiterfamilien sichtbar werden können, müssen diese zunächst ausgesprochen werden und damit sich wiederum Menschen öffnen und Einblicke in ihr Privatleben geben, müssen sie gefragt und wertgeschätzt werden.

Aufgrund dessen haben wir mit unserem Projekt versucht, unsere Wertschätzung gegenüber der meist unsichtbar gebliebenen Geschichten der Gastarbeiterfamilien zu erweisen.

In diesem Rahmen haben wir verschiedene Veranstaltungen anbieten können, darunter Buch- und Filmvorstellungen, Gespräche und letztendlich dieses Heftchen. Wir haben Interviews mit Gastarbeiter:innen und ihren Nachfolgegenerationen geführt, die wir teilweise hier aufnehmen konnten. Zudem sind wir auch sehr glücklich über unsere Gastbeiträge von Miki Do, Şule Betül Karaca, Beyzagül Uğurlu und Süveyda Halıcı, die unser Heft bereichert haben.

Ein großes Dankeschön gebührt auch der Landeszentrale für politische Bildung, dem Förderer dieses Projekts.

Natürlich möchte ich auch von Herzen den Ehrenamtlichen der AG Gesellschaft, Politik und Gender, Semiha Çambudak, Asena Karatekin, Kübra Bilge Karatekin und Emine Beyza Üyrüş danken, ohne die dieses Projekt nicht zustande gekommen wäre.
Wir wünschen allen Leser:innen viel Spaß mit diesem Heftchen und hoffen auf eine offene und friedvolle Gesellschaft.

Kübra Dalkılıç

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