19. Aicha Manoubiya

Aicha Manoubia, auch als auch als Lella Saida bekannt, wuchs in Tunis in der Ära der Hafsiden-Dynastie im 13. Jahrhundert auf. Schon früh zeigte sich ihre außergewöhnliche Intelligenz und Eingebungskraft. Ihr Vater war Koranlehrer. Er förderte ihre Ausbildung, indem er ihr Arabisch beibrachte und sie im Koran unterrichtete. Als Imazighen war nämlich ihre Muttersprache tamazight. Ganz offensichtlich entsprach Aicha nicht dem üblichen Bild einer jungen Frau. Sie war ein Freigeist, eine charismatische Person, die sich nicht an Zwänge hielt, denen Frauen ihrer Zeit unterworfen waren. Doch genau damit stieß sie bei den DorfbewohnerInnen auf Unbehagen und führte dazu, dass ihr Vater für ihre untypische Haltung oft kritisiert wurde.

Als Aicha erfuhr, dass sie mit einem Verwandten verheiratet werden sollte, weigerte sie sich und beschloss, wegzuziehen. Eine Handlung, die im 13. Jahrhundert undenkbar war. Als sie schließlich ihre Heimat in Richtung Tunis verließ, brach Aicha nicht nur aus den traditionellen sozialen Zwängen aus, sondern strebte vielmehr nach Freiheit, finanzieller Unabhängigkeit und Bildung. Doch Bildung war, nach dem Historiker Abdel Jalil Bouguerra zufolge, in jener Zeit nur bestimmten Frauen vorbehalten: Ausländerinnen aus dem Maschrek (im heutigen Nahen Osten) oder aus Al-Andalus (dem damals muslimischen Teil der Iberischen Halbinsel) oder den hochrangigen Frauen der herrschenden Geschlechter. Auf Aicha traf nichts davon zu.

In Montfleury ließ sie sich nieder und verdiente ihren Lebensunterhalt zunächst mit Stricken und Spinnen. Doch schon bald wurde sie Schülerin von Abu al-Hasan al-Shadhili, einem der wichtigsten Gelehrten seiner Zeit und ein Anhänger der Sufi-Schule von Ibn al-ʿArabī. Ibn Arabi, eine umstrittene, aber einflussreiche Persönlichkeit in der islamischen Geschichte, war davon überzeugt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Ausführlich berichtete er über die verschiedenen Lehrerinnen, die sein spirituelles Wissen geprägt hatten. So verwundert es nicht, dass sich Aicha für diesen Sufi-Orden entschied.

Aicha widersetzte sich weiterhin den sozialen Maßstäben ihrer Zeit, indem sie den Koran studierte und ihn auslegte, um seine Botschaften besser verstehen zu können. Ihr Weg zum Glauben führte über kritisches Hinterfragen. Schon bald führte ihr Eifer dazu, dass sie von einer Schülerin zur Lehrerin aufstieg. Ihre Debatten mit ihrem Mentor, Al-Shadhili, wurden zur Attraktion für Sufi-Gelehrte und Regenten. In kurzer Zeit nahm Aicha ihren legitimen Platz als führende religiöse Persönlichkeit in Tunis ein und hatte Zugang zu den höchsten theologischen Kreisen. Sie begleitete ihren Mentor zu verschiedenen sakralen Stätten, was nur privilegierten Sufis vorbehalten war. Sie erhielt Zugang zu Gebetsstätten, die bisher nur Männer betreten durfte. 

Neben ihren wissenschaftlichen und religiösen Fähigkeiten zeichnete sich Aicha als Philanthropin aus, die alles, was sie nicht für ihren Lebensunterhalt benötigte, an die Armen weitergab, vor allem an bedürftige Frauen. Historisch belegt ist, dass sie mehrere tunesische Sklaven kaufte und nach Italien schickte, wo sie freigelassen wurden. Und dies sechs Jahrhunderte vor der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in Tunesien im Jahr 1846.

Als Al-Shadhili Tunesien verließ, reichte er Aicha seinen Umhang und seinen Ring, verlieh ihr in einer offiziellen Zeremonie den Titel Qutb und nannte sie die “Wegweiserin der Menschen”. Qutb, bedeutet wörtlich “Pol” oder “Achse” und markiert den höchsten spirituellen Rang im Sufismus. Und tatsächlich war Aicha zu ihrer Lebenszeit und darüber hinaus ein Pol des Wissens und der Theologie.

Ihre Spiritualität und ihre Taten berührten das Leben der Menschen in einer Weise, die sie zur Heiligen erhob. Sie war eine unabhängige und einflussreiche Frau, die die sozialen Zwänge überwinden konnte und sich als gleichberechtigt, wenn nicht gar als intellektuell überlegen erwies. Mit ihrer Forderung nach Bildung und Freiheit für Frauen war Aicha Manoubiya eine Feministin, die ihrer Zeit weit voraus war.

Quelle: 

Safa Belghith, The story of Saida Manoubiya: A Tunisian feminist icon. URL: https://www.opendemocracy.net/en/north-africa-west-asia/saida-manoubiya-story-of-tunisian-feminist-icon/ 

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